Das Fest der Bücher – Eindrücke von der 20. Internationalen Buchmesse in Havanna

Die Buchmesse in Havanna ist kein Event. Aber ein Ereignis! Sie ist ein Bücherfest, das LeserInnen und Literaturschaffende gleichermaßen genießen. Sicher, man feiert sich zum großen Teil auch immer selbst. Undenkbar für unsere Verhältnisse ist es hingegen, dass sich der Kulturminister einer Gruppe nähert und jedem einzelnen herzlich die Hand schüttelt oder dass dich literarische Sterne, wie etwa Antón Arrufat, in ein scherzhaftes Gespräch verwi¬ckeln. Auf der cubanischen Buchmesse scheint sie wirklich zu existieren, die klassenlose Gesellschaft; würden da nur nicht die zwei Währungen zirkulieren…

Für Reinaldo Montero

VON UTE EVERS

Im Februar wurde zum zwanzigsten Mal die Buchmesse unter ihrem traditionellen Motto „Lesen heißt wachsen“ in Havanna gefeiert. Anlässlich ihrer zeremoniellen Eröffnung erklärte die Präsidentin des cubanischen Buchinstituts (ICL) Zuleica Romay Guerra dem geladenen Publikum, dass es „den Verlagen trotz Finanzkrise auch dieses Jahr gelungen ist, die Buchproduktion stabil zu halten“. Der Radiosender El Noticiero Nacional berichtete, dass vor Messebeginn die 48 Buchhandlungen der Hauptstadt mit Neuerscheinungen beliefert wurden. Mehr als 40 cubanische Verlage würden auf dem Gelände der Festung San Carlos de la Cabaña ihre Bücher feilbieten.

Als Kulturen der Völker des ALBA stellten sich die Gastländer Nicaragua, Venezuela, Bolivien, Ecuador, Dominica, Antigua und Barbuda, Saint Vincent and The Grenadines in einer vielseitigen kulturpolitischen Einheit vor. Thematische Schwerpunkte waren die Unabhängigkeitskämpfe Lateinamerikas vor 200 Jahren, die 220 Jahre Haitianische Revolution und die erste Deklaration zur Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1791. Mit zirka 500 Veranstaltungen und rund 200 KünstlerInnen aus aller Welt wurde den BesucherInnen ein vielseitiges kulturelles Programm geboten. Internationale Historiker und Intellektuelle fanden sich täglich zu Debatten über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft dieser Regionen zusammen, literarische wie politische Aspekte fanden gleichermaßen Raum. Die ecuadorianische Kulturministerin Érica Silva betonte, dass die Bolivarische Allianz der Amerikas eine Antwort auf die kapitalistische Globalisierung sei und Lateinamerika und die Karibik nur über eine „solidarische Souveränität“ politisch und wirtschaftlich, sozial und kulturell stärker werden können.

Viele Veranstaltungen waren dieses Mal auf verschiedene Kulturinstitute Havannas verteilt. Konzerte ließen den Messetag in entspannender Weise ausklingen. Als Alternative zu den musikalischen Vorstellungen gab es täglich in den großen Kinosälen der Stadt internationale Filme zu sehen, die sich mit den Themenschwerpunkten der Messe beschäftigten. Hier ist vor allem der Dokumentarfilm La independencia inconclusa (2010) des chilenischen Regisseurs Luis R. Vera Vargas zu nennen. Die Gemeinschaftsproduktion zwischen Chile, Mexiko, Venezuela, Paraguay, Ecuador, Cuba, Bolivien, Kolumbien, El Salvador und Argentinien macht den Film aufgrund seiner außergewöhnlichen historischen Bildaufnahmen und Stimmenvielfalt zu einem sehenswerten, denkwürdigen, aber auch bewegenden Zeitdokument. Obwohl der Traum der Befreiungs- und UnabhängigkeitskämpferInnen eines souveränen und vereinten Amerika nach mehr als 200 Jahren noch nicht wahr geworden ist, gilt er nicht als verloren: PolitikerInnen, KünstlerInnen, Intellektuelle, durch die Straßen der Metropolen der Amerikas eilende PassantInnen oder auch Campesinos/as legen Zeugnis ab von ihrem Glauben an die Amerikas eines Simón Bolívar oder José Martí.

Aber werfen wir endlich einen Blick in die Cabaña, wo sich die Literatur der Insel, die im Jahre 2008 immerhin ihren 400-jährigen Geburtstag feierte, ihr Stelldichein gab. „Sicher gehört er nicht zu den besten Schriftstellern Cubas, gewiss aber zu den nettesten.“ Diese Worte nahm der Publikumsliebling Daniel Chavarría humorvoll entgegen; nicht nur, weil sie ihm von seinem Schriftstellerkollegen Eduardo Heras León augenzwinkernd zugeworfen wurden, sondern weil er ohnehin auf sicherer Seite saß. Daniel Chavarría wurde der Premio Nacional de Literatura 2010 verliehen, die höchste literarische Auszeichnung Cubas. Heras León sprach schon etwas aus, was viele nur dachten. Trotzdem muss der Jury zugestimmt werden, wenn sie behauptete, dass es „Chavarría gelungen ist, dem lateinamerikanischen und cubanischen Krimi eine neue Stimme zu verleihen“. Seine Erfolge als Krimiautor gehen in der Tat über die Grenzen Cubas, ja über die von Lateinamerika hinaus. Chavarría habe damals mit seinem Spionageroman Operation Joy (1978) in Cuba nicht nur seinen literarischen Durchbruch erfahren, sondern auch das „marode Gerüst des institutionalisierten cubanischen Krimis der 70er Jahre zu Fall gebracht“, unterstrich der Schriftsteller Arturo Arango in seiner Laudatio. Arango bezog sich dabei auf das so genannte Quinquenio Gris, die Fünf Grauen Jahre (1970-75) auf Cuba.

Daniel Chavarría (1933 in Uruguay geboren) floh im Jahre 1969 nach einer abenteuerlichen Odyssee durch Europa und Lateinamerika mit seiner Gefährtin von Kolumbien aus nach Cuba. Die Hintergründe dafür waren alles andere als Revolutionsromantik. Aus Angst, dass er als aktiver Untergrundkommunist entdeckt werden und in Lebensgefahr geraten könnte, „entschied ich mich, ein Flugzeug zu entführen, um nach Cuba zu gehen. Ich hatte mehrere Blanko-Reisepässe verschiedener Nationalitäten…von einem Verbrecher aus Cali gekauft.“

Die Biografie von Leonardo Padura ist vielleicht weniger abenteuerlich. Sein neues Buch Der Mann, der Hunde liebte (Ediciones Unión, Havanna, 2011, dt. Unionsverlag, Zürich 2011) ließ dieses Jahr die Wellen auf der Messe hochschlagen. Schon vor der Buchpräsentation wusste jeder: Padura füllt mit seinem Roman über den Mörder Trotzkis nicht nur „eine Lücke in der cubanischen Historie“, wie der Essayist Reynaldo González erklärte. Vehement prangert der Erzähler eben auch eine Revolution an, die zur Durchsetzung ihrer Ideologie Tausende von Menschen umbringen ließ. Es gab aber auch solche, wenige, die schon die spanische Ausgabe von 2009 zu lesen bekommen hatten und bezüglich literarisch-ästhetischer Aspekte ihre Zweifel an dem Roman hegten, den Padura, wie er selbst sagte, „in erster Linie für die cubanischen LeserInnen“ geschrieben habe. Sobald der Saal Nicolás Guillén, der größte Veranstaltungsort auf dem geschichtsträchtigen Terrain, seine Türen öffnete, saßen indes alle in einem Boot: Es wurde gedrängelt und geschubst, jedeR wollte einen Platz ergattern. Nicht einmal die guatemaltekische Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú schaffte es einige Tage später, so viel Publikum zu mobilisieren. Der Popularitätsgrad Paduras in Cuba ist kaum zu überbieten: noch bevor die 3000 Bücher von der Druckerei in die Cabaña gebracht werden konnten, wurden bereits 500 Exemplare direkt vor Ort „beiseite geschafft“, erzählte man sich. Gewiss werden sie bald auf dem Schwarzmarkt in CUC verkauft, das neben der regulären Landeswährung Moneda Nacional zirkulierende Äquivalent zum US-Dollar.

Ja, die cubanischen Intellektuellen haben sich ihre Öffentlichkeit zurückerobert. Dieses Jahr taten sich, vielleicht weniger spektakulär als Padura, aber mindestens genauso kritisch, die hierzulande weniger bekannten DichterInnen Reina María Rodríguez (geb. 1952) und Víctor Fowler (geb. 1960) hervor. Reina zählt zu den meistgeschätzten zeitgenössischen Dichterinnen in Cuba. Die literarischen Treffen bei ihr zu Hause sind zu einer Institution geworden. In ihrer zurückhaltenden, aber bestimmten Art erzählte sie über die bittere Erfahrung ihrer SchriftstellerInnengeneration während des Quinquenio Gris und der Período Especial (1990er Jahre), als die literarischen Treffen auf ihrer Dachterasse zum Überlebensanker für viele wurde. Die damals jüngeren Dichter um die Diasporagruppe, wie Pedro Marqués de Armas, Carlos A. Aguilera oder Rolando Sánchez Mejías fanden sich regelmäßig bei ihr ein, alle leben sie mittlerweile im europäischen Exil. Ihnen räumte sie einen Ehrenplatz in ihrem Vortrag ein.

Víctor Fowler (geb. 1960), ebenso herausragender wie non-konformer Dichter seiner Generation, sprach über die Unvereinbarkeit der politischen und der ästhetischen Avantgarde der 60er-70er Jahre in Cuba, eine Debatte, die damals im Rahmen des „Kulturkongresses von 1968 in Havanna“ von Jesús Díaz (1941 Cuba-2002 Spanien) angestoßen wurde. Während die politische Avantgarde den revolutionären Prozess verteidigte und die Massen bewegen wollte, suchte die ästhetische Avantgarde ihren Weg in einer experimentellen Poetik. Die Folge jener Kulturpolitik, die indes jede Form von poetischer Hermeneutik ablehnte, so Fowler, war das tragische Quinquenio Gris in Cuba.

Zuletzt möge noch der Soziologe Fernando Martínez Heredia (geb. 1939) erwähnt werden, dem, zusammen mit dem Schriftsteller Jaime Sarusky (geb. 1931), offiziell die Buchmesse gewidmet wurde. Martínez’ Anerkennung ist ohne Zweifel auf seine kritisch-konstruktiven Analysen über die Revolution in Cuba zurückzuführen. Nun legte der luzide, aber bescheiden auftretende Marxist insgesamt vier Neuerscheinungen vor, welche die Debatte um die Vergangenheit und Zukunft des Sozialismus auf Cuba um einiges bereichern werden.

Genießt man das Privileg, Veranstaltungen jener Art beizuwohnen, wünscht man sich, dass solche kulturpolitischen Auseinandersetzungen einmal in Deutschland wahrgenommen werden könnten. Doch würde es gewiss nicht in das Konzept passen, denn das hieße, eingestehen zu müssen, wie (selbst-)kritisch viele cubanische Intellektuelle die Kunst als Ganzes im Spiegel der nunmehr 51-jährigen Revolution öffentlich analysieren.

Als Shootingstar der akademischen Fraktion wurde der Schriftsteller und ALBA de las Letras-Preisträger 2010, Luis Britto García aus Venezuela, gefeiert. Anlässlich des Themenschwerpunktes Lateinamerika stellte er sein zweibändiges Werk América Nuestra vor, das gewiss ein Standardwerk bezüglich Integration und Revolution in den Amerikas werden wird.

Die cubanische Buchmesse ist, wie in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern, eine Verkaufsmesse. „Der Wert des Buches als Kulturgut und die cubanischen LeserInnen bleiben oberste Priorität“, hielt ein Sprecher der Buchmesse fest. Dies kann erst einmal von Vorteil sein, orientiert sich die Buchproduktion somit nicht am Markt, sondern am Interesse der LeserInnen. Doch gibt es Nachteile, die nicht zu verachten sind: Viele Autoren auf der Insel haben es schwer, einen ausländischen Verleger zu finden. Die Gründe dafür seien sehr komplex, antworten die meisten Verleger meist ausweichend. Aufgrund der staatlichen Verlagsförderung in Cuba genießen viele AutorInnen zwar die relative Sicherheit, veröffentlicht zu werden. Doch oft bleibt es bei einer ersten, niedrigen Auflage und von den Tantiemen kann kaum eineR leben.

Auch sorgt das immer noch nicht gelöste Problem der Doppelwährungen (nicht nur) auf der Buchmesse weiterhin für ein soziales Ungleichgewicht. Fast schon unverschämt mutet es an, wenn die spanische Fundación Féderico Engels die Memoiren Trotzkis zu 9 CUC dem cubanischen Publikum vor die Nase setzt, während etwa das venezolanische Buchinstitut (CENAL) seine Bücher für rund 2 CUC verkauft. Das monatliche Durchschnittsgehalt der CubanerInnen liegt bei etwa 360 pesos, das entspricht ca. 14 CUC.

Die prekäre wirtschaftliche Situation der CubanerInnen lässt sich nicht verleugnen. Seit der Liberalisierung öffneten zwar unzählige private Verkaufsstände, die Kaffee, belegte Brötchen oder Pizza verkaufen. Viele Restaurants und Werkstätten wurden neu- oder wiedereröffnet. Der kleine, meist über Kredite sich aufbauende Einzelhandel ist im vollen Gange. Doch kann diese neu geschaffene Nische der cuenta propia (dt. auf eigene Rechnung) die CubanerInnen ökonomisch weiterbringen? Immer wieder ist der Ausruf Hay mucha preocupación en la calle zu hören (dt. Die Menschen auf der Straße sind sehr besorgt). Im April wird der VI. Kongress der KP über die „Aktualisierung der nationalen Ökonomie“ entscheiden. Nachhaltige ökonomische Verbesserungen sind der cubanischen Bevölkerung allemal zu wünschen, denn das Leben besteht nicht nur aus Büchern.

aus: ila 344, April 2011, www.ila-web.de

Diesen Artikel weiterempfehlen: