Ein Leseland schlechthin

Die Internationale Buchmesse 2011 in Havanna steht im Zeichen der Integration Lateinamerikas.

Von Katja Klüßendorf

Sie wird wieder zu einem großartigen Fest der Literatur und Kunst werden: Vom 10. bis 20. Februar 2011 lädt die Feria Internacional del Libro, die internationale kubanische Buchmesse, bereits zum zwanzigsten Mal alle Lesebegeisterten auf Havannas historische Festungsanlage »San Carlos de la Cabaña« ein. Bei der 19. Ausgabe im Februar zählte sie mehr als 2,6 Millionen Besucher, mehr als 900.000 Bücher wurden verkauft. Das sind beeindruckende Zahlen bei einer Bevölkerung von rund elf Millionen Menschen. Die Buchmesse ist dadurch nicht nur das bedeutendste Ereignis in der kubanischen Verlagsbranche, sondern die meistbesuchte kulturelle Veranstaltung überhaupt auf der Insel. »Auch wenn das Buch für uns keine Handelsware ist«, bilanzierte der kubanische Kulturminister Abel Prieto zum Abschluß der diesjährigen Buchmesse, sei die hohe Zahl der verkauften Bücher wichtig, denn darin zeige sich, daß für die Kubaner Bücher ein täglicher Begleiter seien. Eine Alphabetisierungsrate von fast 100 Prozent sorgt dafür, daß es überdurchschnittlich viele Lesehungrige auf Kuba gibt. Der Inselstaat gehört laut Weltbildungsbericht der UNESCO zu den im Bildungsbereich am höchsten entwickelten Ländern der Welt. Und auch ein mit über 150 Verlagen gut entwickelter Buchmarkt macht Kuba zum »Leseland« schlechthin.

Die 20. Buchmesse wird aber noch aus einem anderen Grund eine großartige
Fiesta werden, denn mit ihr sollen bedeutende Jubiläen gefeiert werden. Vor 220 Jahren führte ein Sklavenaufstand in der französischen Kolonie Saint Domingue zur Gründung des ersten unabhängigen Staates in Lateinamerika, das heutige Haiti. 20 Jahre später griff der Funke des Unabhängigkeitsstrebens auf die lateinamerikanischen Kolonien über. Die »Kreolen«, wie die Angehörigen der spanischstämmigen Elite genannt wurden, erhoben sich gegen das spanische Kolonialsystem: Kaufleute, Händler und Grundbesitzer, dazu Studenten und Beamte, aber auch eine große Zahl von spanisch-indianischen »Mischlingen«, die »Mestizen«. Seit 2009 und bis 2011 wird unter dem Begriff »Bicentenario« der Ereignisse gedacht, mit denen der Weg zur Unabhängigkeit Lateinamerikas begann – 2009 in Bolivien und Ecuador, 2010 in Argentinien, Mexiko, Chile und Kolumbien sowie 2011 in El Salvador, Paraguay, Uruguay und Venezuela.

(Foto: Daniel Hager/jW)
Dicht umlagert waren bei der Buchmesse 2010 vor allem die Stände mit Kinderbüchern

Ein symbolisches Zeichen für ein neues, selbstbewußtes Lateinamerika ist auch
die Entscheidung der Kubanischen Buchkammer, die Mitglieder der Bolivarischen
Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) zu den offiziellen Gastländern der
Feria zu erklären. Antigua und Barbuda, Bolivien, Ecuador, Dominica, Nicaragua,
St. Vincent und die Grenadinen, Venezuela und natürlich Kuba sind eingeladen. Vielleicht sorgt dieses Engagement auch dafür, daß die Integration Lateinamerikas auch seine Literatur beeinflußt. Der venezolanische Schriftsteller Luis Britto García sagte schon im Februar gegenüber jW, daß es manchmal lange dauere, bis sich aktuelle Ereignisse in der Literatur widerspiegeln, während andere von der Literatur vorweggenommen werden. Zum Beispiel habe die derzeitige sozialistische Entwicklung Venezuelas in der Literatur des Landes bereits ab 1960 eine Rolle gespielt, als eine revolutionäre Kulturavantgarde existierte. Es gäbe viele Bücher, die die Rebellion und Gewalt in Venezuela thematisieren, doch der große Roman über den heutigen venezolanischen Prozeß stehe noch aus. In der lateinamerikanischen Literatur dominiere nach einer experimentierfreudigen Phase derzeit eine Richtung sehr einfacher Erzählungen über persönliche Ereignisse und Sichtweisen. Die Autoren beschrieben zwar sehr umfangreiche und komplizierte Themen, aber in einer für das Verständnis der Leser einfachen Art. Daneben existiere eine reichhaltige Literatur über das Exil, viele Schriftsteller schrieben über ihre Erfahrungen in Europa oder in den USA. Ein weiteres Thema sei der Staatsterrorismus, der in gewisser Weise das Genre des lateinamerikanischen Kriminalromans präge. Schließlich gäbe es eine starke Strömung weiblicher lateinamerikanischer Literatur, die ein immer größeres Publikum erreiche. Für diese Strömung stehen beispielhaft die Nicaraguanerin Gioconda Belli, die Mexikanerinnen Ángeles Mastretta und Carmen Boullosa, die Argentinierin Alicia Kozameh oder Antonieta Madrid aus Venezuela.

Das hohe Bildungsniveau, und damit auch die große Bedeutung von Kunst und
Kultur, sind eine der größten Errungenschaften der sozialistischen Revolution in
Kuba. Im Jahr 1961 erfaßte eine Alphabetisierungskampagne die gesamte Insel, in deren Folge Hunderttausende Freiwillige mobilisiert wurden, um fast eine Million Analphabeten zu unterrichten, die bei einer Bevölkerung von damals sieben Millionen Menschen 12,6 Prozent der Erwachsenenbevölkerung ausmachten. 100.000 Studenten zogen in die Dörfer und brachten der Landbevölkerung Lesen und Schreiben bei. 35 000 Lehrer waren im Einsatz, 25.000 Arbeiter gaben an ihren Arbeitsstätten Unterricht für Kollegen, und 121.000 Erwachsene unterrichteten freiwillig in ihrer Freizeit. Bis Ende 1961 sank die Analphabetenrate auf 3,9 Prozent. Die Kampagne wurde für viele junge Menschen, insbesondere aus den städtischen Mittelklassen, zur humanistischen Grunderfahrung ihres Lebens. Zum ersten Mal entdeckten sie ihre eigene Heimat, die »kleinen Kubas auf dem Land«.

Von vier Frauen, die als Jugendliche die kubanische Revolution erlebten und
während der Alphabetisierungskampagne Freundschaft schlossen, handelt der Film »Zucker und Salz«. Im Januar und Februar 2009 begleiteten Tobias Kriele (Idee und Regie) und Martin Broschwitz (Kamera und Schnitt) die Kubanerinnen unter anderem auch auf die Buchmesse. In zahlreichen Gesprächen erzählten sie ihre gemeinsame persönliche Geschichte und gaben damit zugleich Einblick in ein halbes Jahrhundert gelebter Revolution, mit allen Widersprüchen und Fortschritten, aber auch einem klaren Bekenntnis zu ihr. Der Film lief bisher auf dem Dokumentarfilmfestival »Santiago Alvaréz en Memoriam« 2010 in Santiago de Cuba, im September und Oktober soll er auch in Deutschland in verschiedenen Städten zu sehen sein. Das Berliner Büro Buchmesse Havanna beim Netzwerk Cuba – Informationsbüro e.V., das seit 2004 gemeinsam mit Solidaritätsorganisationen, Gewerkschaften und Verlagen eine alternative deutsche Beteiligung an der kubanischen Literaturschau organisiert, unterstützt diese Filmreise. Zwei der Protagonistinnen sowie der Filmemacher werden anwesend sein. Aber solch ein Projekt kostet Geld, deshalb werden Unterstützer gesucht – zum Beispiel, um die Filmreise mit einer Spende finanziell zu unterstützen, den Film in die eigene Stadt zu holen oder bei der Werbung zu helfen. »Wir haben die Revolution vielleicht nicht in die Welt gesetzt«, heißt es im Schlußsatz des Films, »aber doch aufgezogen, um aus ihr eine würdevolle Frau zu machen«.

Kuba-Beilage der jungen Welt vom 21.7.2010

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